Wer ist eigentlich… Harold Williams?

Man geht davon aus, dass ein normaler Mensch im Laufe seines Lebens etwa sechs Sprachen lernen und einigermaßen beherrschen kann. Nicht so Harold Williams. Der neuseeländische Linguist und Journalist brachte sich im Laufe seines Lebens selbst über 50 Sprachen bei und beherrschte jede einzelne grammatikalisch perfekt. Ein Wunderkind also? Ein Genie? Oder ein Autist mit einer ganz besonderen Inselbegabung?

Harold Williams galt bereits in seiner Jugend als Sonderling und als etwas wunderliches Kind. Am 6. April 1876 in Auckland, Neuseeland geboren, befasste sich der Sohn eines britischen Pastors bereits früh mit Literatur und Sprache. Der hochbegabte Schüler verbrachte seine Zeit am liebsten lesend – der russische Schriftsteller Leo Tolstoi zählte zu seinen Vorbildern. Seinem Beispiel eiferte der junge Harold nach und wurde nicht nur Vegetarier und überzeugter Pazifist, sondern begann sich auch für die christliche Mystik zu interessieren. Seine hohen ethischen Werte und sein überragender Wissensdurst ließen ihn bei seinen Mitschülern als sonderbaren Außenseiter gelten. Harold Williams machte das jedoch nichts aus, er fuhr einfach damit fort, die verschiedensten Sprachen zu lernen und sie miteinander zu vergleichen.

Zeitzeugen berichteten, dass er grammatikalische Nachschlagewerke verschlang, so wie andere Leute Krimis lesen. Angefangen hatte er mit Latein (in einem Alter in dem die meisten Kinder gerade einmal lesen lernen) und arbeitete sich dann über verschiedene europäische Sprachen bis zu den polynesischen Dialekten vor, die rund um den Südpazifik gesprochen wurden. Der Junge lernte rasend schnell und mit einer Ausdauer und Perfektion, die ihresgleichen sucht. Dabei hatte Harold keinen Lehrer, er brachte sich all diese Sprachen bei, indem er sich Ausgaben der Bibel in den unterschiedlichsten Sprachen und Dialekten besorgte – als Sohn eines Pastors stellte das kein Problem dar.

Im Laufe seines Lebens lernte Harold Williams so insgesamt 58 Sprachen und sprach sie alle nahezu fließend, darunter Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Russisch, Ungarisch, Tschechisch, Albanisch, Rumänisch, Serbisch, Türkisch, Japanisch, Mandarin Chinesisch und Schwedisch, aber auch so exotische Sprachen wie Alt-Ägyptisch, Hebräisch, Koptisch, Zulu und Tagalog, ein Dialekt, der auf den Philippinen gesprochen wird. Gerne trieb sich der Junge zum Beispiel in den Häfen von Auckland herum, wo er sich fließend mit den polynesischen Hafenarbeitern in deren jeweiligen Sprachen und Dialekten unterhielt.

Studium und Umzug nach Europa

Der hochbegabte junge Mann sollte unbedingt studieren, so beschloss es sein Vater. Doch das Studium an der Universität von Auckland ging schief: Der so sprachbegabte Harold scheiterte ironischerweise an den mathematischen Fächern.

Im Jahr 1900, im Alter von 24 Jahren verließ er seine Heimat Neuseeland und schiffte sich nach Europa ein. Harold Williams zog es nach München, wo er Philologie, Ethnologie, Philosophie, Geschichte und Literatur an der renommierten Ludwig Maximilians Universität studierte. Trotz der Fülle an Studienfächern, bestand er seine Kurse in Rekordzeit: Nur drei Jahre nach seiner Ankunft in München, 1903, erlangte er die Doktorwürde.

In Deutschland jedoch hielt es ihn nicht, Harold Williams zog es nach Osten. Als Korrespondent für diverse britische Zeitungen bereiste er das zaristische Russland und auch hier erregte er bald Aufsehen mit seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung. Als er sein Idol Leo Tolstoi traf, fragte dieser ihn, warum er Russisch gelernt habe. Harold Williams antwortete, er wollte Anna Karenina einfach mal im Original lesen.

Revolutionsjahre in Russland und ein Leben als Journalist

Als Journalist und Autor war Williams in dieser politischen Umbruchphase ganz nah am Puls der Zeit. Der überzeugte Pazifist und Feminist verfügte über eine scharfe Beobachtungsgabe und beobachtete die Russische Revolution mit einer Mischung aus Faszination und Besorgnis. Seine Frau Ariadna Tyrkova, die er in Russland kennen gelernt hatte, war die erste Frau im russischen Parlament und eine leidenschaftlicher Anhängerin demokratischer Reformen.

1917, mit dem Sturz des Zaren Nikolas II. veränderte sich Russland. Hatte Harold Williams diese Revolution anfangs enthusiastisch begrüßt, so erkannte er bald den erstarkenden Einfluss von sozialistischen Extremisten und seine Haltung änderte sich. Der überzeugte Christ und Demokrat war enttäuscht über den Ausgang der russischen Revolution und über die Brutalität der russischen Kommunisten. Williams und seine Frau verließen das Land und er zog mit ihr als Korrespondent und Auslandsexperte für die renommierte Zeitung „The Times“ durch die Welt.

Als politisch und interkulturell erfahrener Experte vertrauten viele Journalisten und auch Politiker seiner Erfahrung, seinem politischen Gespür und seinen präzisen Voraussagen über geopolitische Ereignisse. So wurde er als Experte zur „Liga der Nationen“ nach Genf eingeladen, wo er schon alleine dadurch Aufsehen erregte, dass er mit allen Delegierten in deren eigener Sprache parlieren konnte.
Als Harold Williams 1928 starb, veröffentlichte die Times einen seitenlangen höchst emotionalen Nachruf auf ihn und nannte “zu große Bescheidenheit” seinen einzigen Fehler.
Harold Williams gilt nicht nur den Neuseeländern als eine Art Nationalheiligtum – gerade wegen seiner Sprachbegabung, seinem interkulturellen Verständnis und der Empathie, die er jedem Menschen ganz gleich welcher Nation entgegen brachte, war Harold Williams ein echter Weltbürger.

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